Bürgerjournalismus oder billiger Redakteursersatz? Der Ostsee-Anzeiger hat meintext-mv.de gestartet.
Wofür einen Handwerker bemühen, wenn es auch „Do it yourself“ geht?
Frei nach diesem Motto ermuntern immer mehr Zeitungen ihre Leser,
selbst zu schreiben, zu fotografieren und alles gleich auch noch
komplett ins Netz zu stellen. Nun ist auch der Ostsee-Anzeiger in
Rostock in das Geschäft mit den umsonst arbeitenden „Bürgerreportern“
eingestiegen. Unter www.meintext-mv.de gebe es künftig „genügend Raum für
Informationen aus Ihrem Vereinsleben, die Sponsorensuche für den
Fußballverein oder die Konzertankündigung der hiesigen Schülerband“,
heißt in einer regelmäßig auf der zweiten Seite des Blattes
auftauchenden Eigenanzeige. „Die Texteingabe ist ganz einfach“, wirbt
man dort und verspricht: Ob Dackel ,Waldi‘ entlaufen oder die Laterne
vor der Haustür kaputt ist - alles sei willkommen, und die besten
Beiträge würden „regelmäßig auch in ihrem Ostsee-Anzeiger
veröffentlicht“.
Peter Taubald, Chefredakteur der Madsack-Heimatzeitungen, wies gegenüber „Qualität und Vielfalt sichern“ die Kritik zurück, es gehe beim Bürgerjournalismus nur ums Kostensparen. Schließlich seien die auf „myheimat.de“ veröffentlichten Texte auch vorher nicht von Redakteuren oder freien Mitarbeitern erstellt werden. Es sei nicht Ziel, Bürgerreporter als Ersatz für die bezahlte Arbeit von Journalisten einzusetzen.
Vielmehr würden davon alle profitieren: Vereine könnten zum Beispiel mehr veröffentlichen als in der Zeitung möglich, Journalisten wieder von Bürgerreportern ins Gespräch gebrachte Themen aufgreifen und der Internet-Community der Blätter würde mehr geboten.
Bleibt nur die Frage, ob die Leser „echte“ journalistische Texte und die von bestimmten Interessen geleiteten Beiträge von Bürgerreportern irgendwann überhaupt noch auseinanderhalten können. Verschwimmen die bei Anzeigenblättern von jeher eingerissenen Grenzen von unabhängiger Berichterstattung und Eigenwerbung immer mehr?
Spätestens wenn das der Fall ist, dürften nicht nur Betriebswirte
die Frage stellen, ob es nicht mit noch weniger bezahlten
Redaktionsprofis geht.
Was die Verlage als Demokratiegewinn zu verkaufen suchen, sehen Kritiker als weitere Variante des bei deutschen Konzernen so beliebten Spiels - andere arbeiten lassen, um teures Personal zu sparen. Wenn Bahn-Kunden zum Fahrkartenkauf am Automaten erzogen werden, Supermärkte mit Selbstbedienungskassen experimentieren, warum sollte das nicht auch in der Medien-Branche funktionieren?
Die Hannoversche Madsack-Gruppe, seit einem Jahr auch Eigentümer von
Lübecker Nachrichten und Ostsee-Zeitung mitsamt ihrer Anzeigenblätter,
gehört zu den Schrittmachern dieser Entwicklung. Sie ist sie an
„Deutschlands erster Mitmach-Zeitung“ in Gießen beteiligt und treibt
über das Portal „myheimat.de“ den
Do-it-yourself-Journalismus voran. Vor kurzem stieg auch das
Anzeigenblatt der Lübecker Nachrichten mit mit „meinwochenspiegel.de“ in das
Geschäft ein. Spannende Frage bleibt, wann die dazugehörigen
Tageszeitungen dem Modell folgen.