Würden Sie bewusst den Verlust Ihres Gedächtnisses hinnehmen? Würden Sie freiwillig auf ein paar Jahrzehnte Ihrer Erinnerung verzichten? Auf dem außerordentlichen Presse-Tag in Schwerin wie in der bisherigen Debatte um Qualität und Vielfalt der Tageszeitungen spielte die Demontage der Pressearchive nur am Rande eine Rolle. Der Frage ob es wirklich nur ein Randthema ist, wird im folgenden Beitrag nachgegangen.
Archive der Zeitungen werden auch als Gedächtnis der Zeitung bezeichnet. Sie entstanden unmittelbar nach Zeitungsgründung. Sehr schnell wurde klar, für eine fundierte Berichterstattung benötigen die Redakteure mehr als eine einfache Zeitungsablage. Informationen über vergangene Ereignisse durch blättern in alten Zeitungen zu erhalten, genügte nicht mehr. War es doch enorm zeitaufwendig und an das Erinnerungsvermögen der einzelnen Redakteure gebunden. „So einen trockenen Sommer mit extremen Niedrigwasser der Elbe gab es doch schon einmal, wann war das?... Wie niedrig war der Wasserspiegel? Welche Auswirkungen gab es für die Bevölkerung?“
Archive mit ausgeklügelten Schlagwortsystemen lösten das Problem. Berichte und Fotos konnten so schnell und sicher aufgefunden werden. Unter dem Stichwort Deutschland-Binnengewässer-Elbe wartete die komplette Sammlung aller Berichte bzw. Fotos zu extremen Wasserständen der Elbe.
Fragen, deren Beantwortung vorher Stunden dauerte, wurden in wenigen Minuten erledigt. Qualität und Glaubwürdigkeit der Zeitung wuchs. „Es hat in der Zeitung gestanden!“ Ein oft gebrauchtes Argument für die Richtigkeit.
Ein gut funktionierendes Archiv erwies sich als Wettbewerbsvorteil.
Gleichzeitig entstand ein Hort der Zeitgeschichte, der nach 1990
zunehmend von Historikern, Ortschronisten und einer breiten
Leserschicht intensiv genutzt wird.
Archive, nun als Dokumentationen bezeichnet, entwickelten sich zum festen Bestandteil der redaktionellen Arbeit. Sie recherchieren, selektieren und verdichten Informationen und erstellen Hintergründe zu sich entwickelnden Themen. Die Redakteure erhalten aus der Dokumentation Informationen, die die Wertung des aktuellen Geschehens erleichtern, Zahlen und Fakten, Fotos als Hintergrund oder zur Illustration. Dokumentare verifizieren Nachrichten, beschaffen Fotos, klären Urheberrechte und Preise. Sie agieren weltweit.
Was mit Modem und komplizierten Retrievalsprachen begann, erscheint heute mit Internet und fortschreitender Digitalisierung sehr einfach. Der Inhalt der meisten Zeitungen und zahlreiche andere Informationen sind digital verfügbar. Es entsteht der Eindruck, jede gesuchte Information ist vorhanden und einfach zugänglich.
Ein Idealzustand, der Dokumentationen überflüssig macht?
Steht die Dokumentation nicht mehr zur Verfügung, verschiebt sich ihr arbeitsteiliger Beitrag am redaktionellen Prozess in Richtung Redakteur. Er muss zusätzliche Zeit aufbringen. Ist jeder Redakteur für seine Recherche selbst zuständig, heißt das auch, er muss die Recherche in internen und externen Datenbanken sowie Suchmaschinen beherrschen, sich möglichst auch im Altarchiv auskennen.
Erschwerend kommt hinzu, dass es manchmal nicht nur eine interne
Datenbank mit dem digitalen Zeitungsinhalt der letzten 20 Jahre gibt,
sondern der Content über mehrere Datenbanken mit sehr unterschiedlichem
technischen Niveau verteilt ist.
Interne Datenbanken sind in der Regel reine Volltextdatenbanken. Sie funktionieren wie Internet-Suchmaschinen. Zur Optimierung der Recherche stehen Boolesche Operatoren und andere Werkzeuge zur Verfügung. Ein Beispiel mit der gängigsten Internet-Suchmaschine Google: Bei der einfachen Suche „Kohlekraftwerk Lubmin“ zeigt Google 13 600 Treffer.
Schränkt man die Suche auf alle Treffer mit dem Suchbegriff im Titel der Seite ein bekommt man noch 210 Treffer. Man kann die Recherche mit Hilfe von Booleschen Operatoren verfeinern und erreicht dann eine Trefferzahl von zehn Artikel.
Das ist nicht schlecht. Aber ob genau der gesuchte Artikel oder das gesuchte Foto dabei ist und ob es nun wirklich alle wichtigen Artikel oder Fotos sind, kann nicht garantiert werden.
Selbst in der eigenen viel kleineren Archiv-Datenbank dürfte das
Phänomen des „Verschwindens“ eines Bildes oder Artikels nicht unbekannt
sein. Es erweist sich als schwierig alle Eventualitäten bei der
Recherche zu berücksichtigen. Besonders problematisch gestaltet sich
die Suche nach Zahlenmaterial, wie zum Beispiel die Zahl der
Übernachtungen auf Campingplätzen in den letzten drei Jahren oder die
Suche nach vollständigen Serien mit unterschiedlichen
Themenschwerpunkten.
Eine Volltextrecherche wird auch problematisch, wenn sie über
längere Zeiträume erfolgen muss. Unsere Sprache lebt und verändert sich
ständig. Der Redakteur blättert wieder – digital in alten digitalen
Zeitungen.
Wie sieht es in Mecklenburg-Vorpommern aus? Das Archiv der
Schweriner Volkszeitung existiert de facto nicht mehr. Die Dokumentare
des Nordkuriers befinden sich in der Altersteilzeit. Die Ostsee-Zeitung
hat ein Ein-Frau-Textarchiv und einen interessanten Ansatz im
Bildbereich – eine Rechercheurin für Bild im Newsdesk.
Alle drei Zeitungshäuser verfügen über Redaktionssysteme mit einem Volltextarchiv. Recherchen im eigenen Archiv, Internet und externen Datenbanken, die vorher von Dokumentaren geleistet wurden, landen zunehmend auf den Schreibtischen der Redakteure. Dazu kommen Anfragen von Lesern, Historikern und Hobbyforschern.
Ein neues Denken ist gefordert. Langfristige Lösungen zur Nutzung
der Archive in ihrer Gesamtheit müssen an Stelle kurzfristiger
Spareffekte treten. Kurzzeitig richtige Entscheidungen könnten sich
langfristig als fatale Fehlentscheidungen erweisen:
Die Verlagerung der Dokumentationsleistungen im redaktionellen Arbeitsablauf zum Redakteur erhöht zwangsläufig dessen Arbeitspensum und gefährdet langfristig die Qualität. Die Glaubwürdigkeit der Zeitung fußt auf Qualität. Die Redaktion braucht intelligente schlagwortbasierte Datenbanken. Sie brauchen, in den redaktionellen Ablauf eingebundene, Informationsspezialisten.
Es ist der Verlust von umfangreichen digitalisierten Zeitungsinhalten zu befürchten, wenn nicht sehr zeitnah die Retrodigitalisierung der Alt-Datenbanken aus den 80er und 90er Jahren erfolgt. Hier wird regionales Kulturgut vernichtet! Altarchiv und Datenbanken müssen gesichert werden. Sie müssen öffentlich zugänglich sein.
Einzigartige Gedächtnisse der regionalen Geschichte dürfen nicht in alten Archivkellern verstauben. Bewahrt unsere Erinnerung, gegen diese Demenz gibt es Medikamente.
Elvira Grossert